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Vorwort (mehr)
Eine Legasthenie hat mit Faulheit nichts zu tun (mehr)
Eine Legasthenie beruht nicht auf Unkonzentriertheit (mehr)
Eine Legasthenie hat mit Dummheit nichts zu tun (mehr)
Was ist eigentlich eine Lese-Rechtschreibstörung? (mehr)
Was künnen Eltern tun? (mehr)
Was künnen Lehrer/-innen tun? (mehr)
Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums von 2008 (mehr)
Wirksame Hilfe beginnt mit einer fundierten Diagnostik (mehr)
Vorwort
In den vielen Gesprächen mit Eltern, die Rat suchend zu uns kommen, um ihrem Kind zu helfen, den
schulischen Anforderungen zu genügen, müssen wir leider immer wieder feststellen, dass diese
Eltern in der Bewältigung ihres Problems allein auf sich gestellt sind. Sie sind weder über die
Legasthenie selbst noch über die institutionell gebotenen Hilfen und die sinnvolle Unterstützung
zu Hause informiert.
Wie viele Väter sitzen noch nach Feierabend mit ihrem Kind zusammen und gehen die Schularbeiten für
den nächsten Morgen durch? Wie viele Mütter verbringen ganze Nachmittage neben dem Kind am
Schreibtisch? Doch weder mit gutem Zureden, Lob und Belohnung, noch mit Drohungen und Strafen können
sie dem Kind zu besseren Leistungen verhelfen. Nicht selten werden solche häuslichen Mühen zu
einer gegenseitigen Quälerei, die mit Wutausbrüchen und Tränen endet. Manche Mutter
verzweifelt schier, weil sie meint, mit gut gemeinten Tipps wie: „Die ‚Bohnen‘ schreibt
man mit ‚h‘ — das hört man doch!“ dem Kind eine Hilfe zu sein. Wenn der Sohn
oder die Tochter nämlich das nächste Mal den Ratschlag anwendet und auch in ‚Boden‘
ein ‚h‘ ‚hört‘ (Bohden), bekommt er oder sie gesagt, dass man den ‚Boden‘
natürlich nicht mit ‚h‘ schreibe. Was sollen die Kinder jetzt tun? Viele Kinder versuchen,
sich die Diskrepanz durch eine selbstgebastelte ‚Privatregel‘ zu erklären, die dann zu
Rechtschreibfehlern führt, die den Erwachsenen ganz unverständlich sind. Viele Kinder resignieren
aber vor dem unüberwindlich scheinenden Berg der Rechtschreibprobleme und entwickeln eine Unlust allem
Geschriebenen gegenüber.
Wir wollen mit diesem Ratgeber zweierlei erreichen: den betroffenen Eltern das Verständnis für die
Situation ihres Kindes erleichtern und ihnen zu mehr Sicherheit im Umgang mit der Lese-Rechtschreibstörung
bei ihrem Kind verhelfen, indem sie über die Wege konkreter Hilfe informiert werden.
Aber nicht nur Eltern, sondern auch den Vertretern von Behörden und Fachdiensten, den Lehrern und
Erziehern und allen, die am Problem der Beeinträchtigung richtigen Schreiben- und Lesenlernens
interessiert sind, will dieses Heft Aufschluss geben über die Lese-Rechtschreibstörung, ihre
Folgewirkungen sowie die Möglichkeiten ihrer Behebung.
Dabei muss aber auch eine Einschränkung gemacht werden. Dieser Ratgeber kann nicht die fundierte
Beurteilung der je spezifischen Schwierigkeiten eines Kindes, das beim Schreiben- und Lesenlernen auffällig
wird, ersetzen. Hierzu bedarf es einer eingehenden Diagnose mit einer spezifischen Berücksichtigung der
individuellen Entwicklungsschritte, des aktuellen Entwicklungsstandes und der Profilierung der Lernfähigkeit
des Kindes. Dieser Ratgeber kann auch nicht zu möglicher Weise erforderlichen therapeutischen Maßnahmen
anleiten oder gar eine solche Therapie ersetzen. Er kann nur helfen, Fehler im täglichen Umgang mit
betroffenen Kindern zu vermeiden.
Zurück zum Anfang
Immer wieder hört man auch heute noch als Erklärung, warum ein Kind beim Schreiben- und
Lesenlernen
versagt, das Urteil, es sei eben faul, übe nicht genügend oder habe einfach kein Interesse. Solche
Urteile sind für Legastheniker in aller Regel nicht nur unzutreffend, sondern sie verstärken die
Probleme eines lese-rechtschreibschwachen Kindes noch. Meist rühren solche Verurteilungen schlicht
daher, dass sich ein Erwachsener, dem das Schreiben und Lesen etwas Selbstverständliches ist, überhaupt
nicht vorstellen kann, was das Schwierige am Erlernen dieser Grundvoraussetzungen des schulischen Erfolges
sein soll. Des Lesens und Schreibens mächtige Erwachsene sehen zumeist die richtige Schreibung vor
ihrem ’inneren Auge’, bestenfalls probieren sie bei schwierigen Wörtern noch zwei
verschiedene Schreibungen auf einem Extrazettelchen aus und streichen mit traumhafter Sicherheit die falsche
Schreibung durch, ohne zu wissen, warum man dieses Wort so und nicht anders schreibt.
Und der Legastheniker? Genauso wie die anderen Kinder will ein lese-rechtschreibschwaches Kind Schreiben und
Lesen lernen. Genauso wie die anderen Kinder interes¬siert es sich für die Welt der Erwachsenen und
möchte die Geheimnisse, die es dort ent¬deckt, entschlüsseln. Genauso wie die anderen Kinder möchte
es wissen, was sich hinter diesen Buchstaben versteckt. Und jedes lese-rechtschreib-schwache Kind möchte
auch erleben, dass es schon groß ist und etwas kann, wenn nicht gleich wie die Erwachsenen, so doch
wenigstens wie die anderen Kinder in seiner Klasse, und dafür strengt es sich an.
Aber hier hört auch die Gemeinsamkeit auf, denn ein lese-rechtschreibschwaches Kind erlebt meist schon
beim Eintritt in die Schule, dass es bezüglich des Schreiben- und Lesenlernens hinterherhinkt. Während
die meisten Kinder hier schon mehr oder weni¬ger flüssig ihren Namen schreiben können, oft
schon Teile des Alphabets beherrschen und einzelne Wörter wieder erkennen können, hat es oft Mühe,
seinen Namen über-haupt nur ’abzumalen’. Während die anderen Kinder die Buchstaben
fast mühelos zu lernen scheinen und schnell dazu übergehen, die Buchstaben, die um sie herum zu
sehen sind, zu entschlüsseln oder gar - wenn auch orthografisch falsch - den eigenen Wunschzettel für
Weihnachten schreiben, haben lese-rechtschreibschwache Kinder oft große Mühe, die Form des
Buchtabens richtig wiederzugeben bzw. den gesehenen Buchstaben in den richtigen Laut zu übersetzen. Sie
können sich einfach nicht merken, wie die ersten Wörter, an denen die Laut-Zeichenverknüpfung
gelernt wird, geschrieben werden. Und das, obwohl sie oft die doppelte und dreifache Zeit aufgewendet haben,
um die Schreib- und Lesehausaufgaben zu bewältigen. Sie haben das Wort, das sie üben soll¬ten,
fünf- oder gar zehnmal Buchstabe für Buchstabe abgeschaut, und doch ist bei jedem Mal ein anderer
Fehler drin.
Wundert es da, wenn ein lese-rechtschreibschwaches Kind diese Anstrengungen zu vermeiden sucht? Es müht
sich für seine Hausaufgaben teils mit teils ohne Druck ab, um überhaupt einigermaßen
akzeptable Ergebnisse in der Schule abzuliefern; es sitzt manchmal den ganzen Nachmittag mit der längst
entnervten Mutter über dem Schul¬heft, während die anderen Kinder längst spielen, nur um
am nächsten Morgen in der Schule zu hören, es habe wohl nicht genügend geübt. Faul ist
so ein Kind bestimmt nicht. Die Anstrengungen, die es unternimmt um mitzuhalten, übersteigen die der
Klassenkameraden meist um ein Vielfaches. So kann es zu Verweigerungen auf dem Gebiet des Schreibens und
Lesens kommen, die möglicherweise durchaus die Folge der nicht erkannten Lese- und Rechtschreibstörung
sind.
Oft empfehlen Lehrer Eltern hier mehr zu üben und angesprochen darauf, dass die ver¬mehrte
Anstrengung keinen Erfolgt zeitigt, geben sie dann den Eltern den ’Rat’ nicht aufzugeben, die
Schwierigkeiten würden sich im Laufe der Zeit schon von selber geben. Sicher, Kinder lernen alle etwas
unterschiedlich mal schneller, mal langsamer und in oft für den Laien unverständlichen Sprüngen.
Für ein lese-rechtschreibschwaches Kind aber ist solch ein Rat gleichbedeutend damit, seine Leiden zu
vergrößern. Es ist fast, als würde man einem blinden Kind zum wiederholten Male das Üben
mit Großvaters Brille empfehlen, statt ihm endlich die ihm gemäße Blindenschrift
beizubringen.
Wertvolle Zeit, die nach gründlicher Untersuchung als wirksame Hilfe für die Entwicklung des
Kindes genutzt werden könnte, wird vertan. Stattdessen wird der Druck auf Eltern und Kind erhöht,
was die Gefahr von Störungen der emotionalen Entwicklung, des sozialen Verhaltens und der kognitiven
Reifung heraufbeschwören kann.
Zurück zum Anfang
Auch diese falsche Erklärung einer Lese-Rechtschreibstörung hört man immer wieder, das Kind
konzentriere sich nicht richtig, sei unaufmerksam und mache daher so viele Fehler. Viele Phänomene
scheinen in der Tat den Eindruck zu belegen und dem vorschnell erteilten Vorwurf recht zu geben. Das fängt
damit an, dass das Kind immer irgendetwas anderes vorhat, bevor es an die Hausaufgaben geht. Kaum sitzt es
da, steht es schon wieder auf, weil irgendetwas vergessen wurde. Dann wieder ist die Hausaufgabe völlig
unklar und nicht herauszubekommen, worin sie bestehen soll. Kann endlich die Schreibarbeit in Angriff
genommen werden, muss erst noch der Teddy oder sonst ein Maskottchen auf den Tisch; kaum steht er da, ist er
viel wichtiger als die Schularbeit. Und dann beim Schreiben, da fehlt die Patrone, schmiert die Feder, muss
der Klecks beseitigt werden. Zu jedem Wort fällt dem Kind irgendetwas ein nur nicht, wie es zu
schreiben ist. Und dieses Verfahren setzt sich den ganzen Nachmittag fort. Schnell drängt sich der
Mutter auf, das Kind könne sich offensichtlich nicht konzentrieren.
Es scheint auch wirklich so, als könne das Kind nicht ‚bei der Sache‘ bleiben. Aber ist es
nicht vielmehr so, dass dem Kind die Sache einfach verschlossen ist? Bisher hatte es nur
gelernt, dass es mit allem, was ihm als Weg zum Schreiben- und Lesenlernen geboten worden war, immer wieder
gescheitert ist. Ist es nicht in Wahrheit unglaublich konzentriert in der Vermeidung von weiteren
Misserfolgserlebnissen? Bei anderen Tätigkeiten als ausgerechnet Schreiben und Lesen, bei Tätigkeiten,
die ihm Spaß machen und bei denen es Erfolge erlebt, ist es da nicht hochkonzentriert? Beim
Legospielen, wie lange hält es da durch und zu welch unglaublichen Lösungen kommt es da! Oder am
Computer? Welches lese-rechtschreibschwache Kind hat da nicht schon seine Eltern durch Ausdauer und
frappierend einfache und schlaue Lösungen überrascht? Oder beim Malen, mit welcher Hingabe und
welchem Durchhaltevermögen gibt sich manch lese-rechtschreibschwaches Kind dieser Tätigkeit hin.
Viele dieser Kinder sind auch beim Rechnen ausgezeichnet: Blitzschnell und mit höchster Konzentration
werden die richtigen Lösungen präsentiert. Erst recht, wenn Sachwissen gefragt ist. Oft ist es
unglaublich, welche Ausdauer diese Kinder an den Tag legen, wenn es gilt, die Zusammenhänge der
Tierwelt zu erkunden.
Beim Diktat muss es sich auf jedes einzelne Wort, ja auf jeden Buchstaben konzentrieren und tut es auch.
Eine Zeit lang geht das auch gut, oft ist in den ersten zwanzig Wörtern kein einziger Fehlen Aber dann
nützt alle Konzentration nichts mehr, weil es einfach nicht mehr weiß, für welche der vielen
rechtschreiberischen Möglichkeiten es sich entscheiden soll. Schreibt man ‚für‘ mit
‚f‘ oder mit ‚v‘, mit ‚h‘ oder ohne, und wenn man ein ‚h‘
schreiben muss, wo kommt es hin, und was gehört an den Schluss dieses Wörtchens? Wie ein ‚r‘
in ‚Rose‘ hört es sich schließlich nicht an! Währenddessen ging der Diktattext
weiter, und das Kind weiß schon längst nicht mehr, wie das nächste Wort hieß,
geschweige denn, wie es geschrieben werden sollte.
Vielfach werden solche Fehler dann auch „Leichtsinnsfehler“ genannt, aber das Kind war nicht
leichtsinnig, es hat alle Möglichkeiten der Rechtschreibung und oft noch einiges mehr erwogen und
dennoch nicht gewusst, wie das jeweilige Wort geschrieben werden muss. Das lese-rechtschreibschwache Kind
hat beim Diktat wie bei den Hausaufgaben keinen gesicherten ‚Bereich‘, auf den es sich beim
Schreiben verlassen kann. Es muss sich auf jeden Buchstaben konzentrieren, ohne dass es damit sicher zu
richtigen Schreibleistungen gelangt, und entsprechend schnell ist es mit seiner Konzentrationsanstrengung am
Ende.
Was wie Konzentrationsmangel bei lese-rechtschreibschwachen Kindern erscheint, ist meistens das Gegenteil:
Die Verschriftung selbst erfordert für diese Kinder ein extrem hohes Maß an Konzentration, weil
jeder Laut und jeder Buchstabe selbst in den am häufigsten geschriebenen Wörtern jedes Mal neu
bedacht werden müssen. Und diese Anstrengung müssen die andern Kinder nicht aufbringen. Was als
Unaufmerksamkeit erscheint, ist in der Mehrzahl aller Fälle die Folge einer bis dahin nicht erkannten
Lese-Rechtschreibstörung und nur in ganz seltenen Fällen der Auslöser für eine Hemmung
auf diesem Gebiet. Folglich führen auch Übungen der Konzentrationsfähigkeit nicht zum erwünschten
Resultat. Der oft nur gut gemeinte Hinweis: „Konzentrier dich endlich mal richtig!“ führt häufig
zum gegenteiligen Ergebnis; das Kind fühlt sich in seiner Anstrengung völlig missverstanden und
beginnt, mehr und mehr negative Urteile über sich selbst zu entwickeln.
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Das folgenschwerste Fehlurteil über die Ursache der Lese- oder Rechtschreibprobleme ist schließlich
die immer noch anzutreffende Feststellung, das Kind sei dumm, gehöre nicht auf diesen Schultyp oder sei
allgemein leistungsschwach. Sicher, auch hier scheinen einige Fakten das Urteil zu belegen. Ein
lese-rechtschreibschwaches Kind fällt zunächst beim Schreiben- und Lesenlernen selbst auf, und
dieses nimmt in den ersten Grundschuljahren mindestens die Hälfte der Zeit in Anspruch. Oft fällt
aber noch nicht einmal das in den ersten beiden Schuljahren auf, weil es durch intelligente Techniken sein
Unvermögen kaschieren kann. Es lernt die Lesetexte viel schneller als andere Kinder auswendig und
‚liest‘ in der Schule die Leseaufgabe scheinbar flüssig vor. Es merkt sich mit
unglaublicher Gedächtnisanstrengung Buchstabe für Buchstabe den zu übenden Diktattext und
liefert dann als Klassenarbeit mindestens durchschnittliche ‚Rechtschreibleistungen‘ ab, ohne
die richtige Schreibung der darin enthaltenen Wörter zu beherrschen. Denn kaum setzen in der dritten
Klasse die so genannten ungeübten Diktate ein, schreibt es kaum ein Wort richtig, und es kommt zu
scheinbar unerklärlichen Einbrüchen. Und dann in der weiterführenden Schule, die Hälfte
aller Informationen und Aufgaben muss gelesen werden (womöglich noch in der jeweils individuellen
Handschrift des Lehrers) und die englischen Vokabeln müssen nicht nur gewusst sondern auch noch
geschrieben werden.
Erst recht in Mathematik und dem Sachunterricht. Mehr und mehr wird hier das Schreib- und Lesevermögen
vorausgesetzt. In Mathematik gibt es Textaufgaben und das Rechenresultat soll schriftlich als Lösungssatz
formuliert werden. Im grundschulischen Sachkundeunterricht (MNK oder später MNT) sind viele Lerninhalte
zum Beispiel von der Tafel leserisch zu ermitteln, und die Klassenarbeiten bestehen zumeist in schriftlichen
Fragesätzen, die das Kind schriftlich beantworten muss. Selbst in Religion und Musik werden zunehmend
schreiberisch/leserisch zu vollziehende Lernschritte und Leistungsnachweise von den Kindern verlangt.
Ein lese- und rechtschreibschwaches Kind hat es jetzt sehr schwer zu beweisen, dass es etwas gelernt hat. Während
die anderen Kinder schon längst bei der rechnerischen Lösung der Aufgabe sind, hat das
lese-rechtschreibschwache Kind immer noch Mühe herauszubekommen, wie die Aufgabenstellung lautet, weil
es entweder mit dem Lesevorgang selber (Laut-Zeichenzuordnung, Lautsynthese) Mühe hat oder die Übertragungsleistung
zum Textverständnis noch nicht sicher beherrscht. So kommt es dazu, dass es sich die Rechenaufgabe auf
dem Rateweg selber stellt und möglicherweise eine ganz andere Aufgabe rechnet, oder aber die
Textaufgabe gar nicht lösen kann, obwohl es die Rechenoperation selber gut und sicher beherrscht.
Ähnlich in den anderen Fächern: Obwohl es die meisten Fragen gut beantworten könnte, wenn sie
ihm mündlich gestellt würden, versagt es bei den Noten entscheidenden Klassenarbeiten. Auch die
Deutschaufsätze werden immer schlechter, obwohl es sonst schön und oft auch sprachlich gewandt erzählt
hat. Kaum muss es aber die Geschichte zu den Bildern aufschreiben, fällt dem lese-rechtschreibschwachen
Kind nichts mehr ein, weil es fortwährend daran denken muss, wie die Wörter wohl geschrieben
werden. Das Ergebnis sind oft wortarme und syntaktisch schwache Leistungen. Manchmal nimmt solch ein Kind -
man muss schon sagen Gott sei Dank - keine Rücksicht auf die Rechtschreibung in den Aufsätzen mit
dem Resultat, dass die Geschichte oft nur von linguistisch geschulten Legasthenietherapeuten entschlüsselt
werden kann.
So kommt spätestens in der dritten Klasse für Lehrer und Eltern oft der Verdacht auf, das Kind sei
in allen Fächern schwach. Mit einer Beurteilung der Intelligenz eines lese-rechtschreibschwachen Kindes
hat das freilich nichts zu tun, denn in den Klassenarbeiten wurde für dieses Kind ja nicht die
Sachkenntnis geprüft, sondern ein ums andere Mal seine Lese- und Schreibfertigkeit. Es ist umgekehrt
oft erstaunlich, über welch enorme intellektuelle Kapazitäten manch ein lese-rechtschreibschwaches
Kind verfügt, wenn es trotz seiner Entwicklungsstörung noch durchschnittliche und oft sogar überdurchschnittliche
Leistungen im schulischen Alltag erbringt.
Wenn dann aber die falsche Beurteilung des lese-rechtschreibschwachen Kindes als minderbegabt noch durch
schnell daher gesagte Sätze ergänzt wird wie: „Die einfachsten Wörter schreibst du ja
noch nicht einmal richtig!“ kommt eine gesunde und realistische Selbsteinschätzung des Kindes ins
Wanken. Es beginnt, sich selbst für dumm zu halten, sieht sich als Außenseiter, schulspezifisches
Bauch- und Kopfweh kommen auf. Oder sein soziales Verhalten wird auffällig, das Kind wird aggressiv
oder albert dauernd herum. Insgesamt beginnen wegen einer nicht rechtzeitig erkannten und behandelten
Lese-Rechtschreibstörung Veränderungen im Kind vorzugehen, die von erfahrenen Pädagogen
zurecht als Teufelskreis der Legasthenie beschrieben werden, weil das Kind sich missverstanden fühlt
und Auswege sucht, die sein ganzes Entwicklungsdilemma nur noch verschlimmern.
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Es würde den Rahmen dieses als Ratgeber für Eltern und Lehrer konzipierten Heftes sprengen, wollten
wir versuchen, auch nur andeutungsweise den Stand der wissenschaftlichen Diskussion wiederzugeben. Es kommt
uns vielmehr darauf an, soweit wie möglich unter Vermeidung der manchmal unumgänglichen
Fachsprache eine für den praktischen Umgang mit betroffenen Kindern handhabbare begriffliche Klarheit
zu vermitteln. Wir vermeiden deshalb auch die ausführliche Zitierung wissenschaftlicher Studien und
geben nur wenige, dem Darstellungsinteresse angemessene Hinweise auf weiterführende Literatur.
Kinder tun sich unterschiedlich schwer bei dem Erlernen des Schreibens und Lesens, dies wird beobachtet,
seit es eine allgemeine Schulpflicht gibt. Sehr früh wurde entsprechend auch schon beobachtet, dass es
bei wenigen Kindern offenbar hartnäckige Lernhemmungen auf diesem Gebiet gibt, denen mit den jeweils
normalen schulischen Mitteln nicht beizukommen war und für die zunächst keine befriedigende Erklärung
gefunden werden konnte. Dieses Phänomen hat seit den ersten wissenschaftlichen Beschreibungsversuchen
die verschiedensten Namen bekommen. Mal hieß es Schreibstammeln (Berkhan 1885), dann Wortblindheit
(Morgan 1896), dann Legasthenie oder Leseblindheit (Ranschberg 1928), später Lese-Rechtschreibschwäche
(Kirchhoff 1964), oder man verwendete auch den aus dem angelsächsischen Raum übernommenen Begriff
Dyslexie, um nur einige zu nennen. Natürlich sind alle diese Bezeichnungen mit jeweils verschiedenen
Begründungszusammenhängen verbunden, sodass sie insgesamt mehr als Versuche zu verstehen sind, das
Phänomen überhaupt erst einmal einzugrenzen. Gemeinsam ist allen frühen Erklärungsversuchen,
dass sie darauf aufmerksam zu machen versuchten, dass es immer wieder Kinder gibt, die aus den Forschern
unersichtlichen Gründen nicht oder nur sehr schwer und unvollkommen Schreiben und Lesen erlernen.
Da die Schrift ein wesentliches Mittel der modernen Verständigung ist, wurde schnell deutlich, dass
Kinder, die diese Verständigungsform nicht oder nur schlecht beherrschen, von weiten Teilen der
Bildungsangebote ausgeschlossen werden. Dies macht sich bemerkbar bei den Kindern selbst: sie vermeiden
alles, was mit Schreiben und Lesen zu tun hat; es wird aber auch durch unser dreigliedriges Schulsystem noch
verstärkt: der Besuch der weiterführenden Schulen wird mindestens in Form der Deutschnote von der
leserischen und rechtschreiberischen Kompetenz abhängig gemacht.
An dieser Stelle hat sich die wissenschaftliche Diskussion zunächst einmal der Frage zugewandt, unter
welchen Umständen von einer solchen spezifischen Beeinträchtigung für die Entwicklung des
Kindes zu sprechen ist, wann also bei betroffenen Kindern über die normale schulische Lese- und
Schreibunterrichtung hinaus Hilfe- und Förderbedarf besteht, um ihnen eine ihren Möglichkeiten
entsprechende Entwicklung zu bieten. Hier hat v.a. ein Klassifikationsschema bei den Schulpraktikern, den
Kultusbehörden, den Ärzten und den Behörden Anerkennung gefunden, sodass sie heute als die
allgemein gültigen Beschreibung des Phänomens bezeichnet wird. Die von der Weltgesundheitsbehörde
(WHO) erarbeitete Internationale Klassifikation Psychischer Störungen (derzeit gültige Fassung
lCD-10) definiert die Phänomene als ‚isolierte Rechtschreibstörung‘ (F81.1) oder als
‚Lese- und Rechtschreibstörung‘ (F81.0). Unter dieser Störung wird verstanden, dass
ein Kind deutlich schlechtere Lese- und/oder Schreibleistungen erbringt, als nach seinem Alter, seiner
allgemeinen Intelligenz und dem schulischen Stand zu vermuten ist. Es wird davon ausgegangen, dass sich
diese Störung deutlich auch auf andere schulische Leistungsbereiche auswirkt und dass eine klare
Diskrepanz besteht zwischen den Lese- und Rechtschreibleistungen und den übrigen intellektuellen Möglichkeiten,
die insofern auch nicht mit schulischen Noten, sondern mit anerkannten Intelligenztests zu ermitteln sind.
Ausgeschlossen werden Lese- und Schreibstörungen, die als Folge unzureichenden Unterrichts, erheblicher
Hör- oder Sehstörungen, neurologischer Erkrankungen oder geistiger Behinderung auftauchen. Mit
schulischen oder psychologischen Mitteln ist die Störung im zweiten Schuljahr, in schweren Fällen
auch schon im ersten Schuljahr feststellbar.
Damit ist unseres Erachtens zwar ein recht klarer Rahmen beschrieben worden, innerhalb dessen schulischer
und außerschulischer Handlungsbedarf besteht, der über den Lehrplan und das jeweils individuell
gegebene Engagement und möglicherweise auch Vermögen des (Fach-)Lehrers hinausgeht. Leider ist mit
dieser Definition aber auch ein anderes Problem entstanden: Es gibt eine Reihe von Kindern, bei denen diese
Definition nicht oder nicht hinreichend scharf zutrifft, die es aber dennoch mit schulischen Mitteln nicht
zu ausreichenden Rechtschreib- und Leseleistungen bringen. Soll ihnen etwa nicht geholfen werden?
Die oben genannte Definition, die gerne auch Diskrepanzthese genannt wird, ist zur Vermeidung dieses
bildungs- und sozialpolitischen Holzweges erweitert worden, sodass heute vielfach auch von der „unspezifischen
Lese-Rechtschreibstörung“ gesprochen wird. Diese Bestimmung reklamiert, dass es die Aufgaben der
Schule sei, allen Kindern zu ausreichender Lese- und Rechtschreibfertigkeit zu verhelfen. So richtig und wünschenswert
diese erweiterte Definition auch ist, so schnell scheitert sie am Rotstift der Bildungspolitiker, die
meinen, dass ihnen das Geld für den schulischen Bildungsbereich fehlt. Die eigentlich entscheidende
Frage, woher es kommt, dass immerhin etwa jedes zehnte Kind nur extrem schlechte Recht¬schreib- und
Lesefertigkeiten in der Schule erwirbt, ist in der wissenschaftlichen Diskussion bisher nicht befriedigend
beantwortet worden. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion gibt es da stattdessen gewisse
Modeerscheinungen, z.Zt. werden genetische Erklärungsversuche favorisiert. Hier wird versucht,
bestimmte Bestandteile des Erbgutes (im Gespräch sind die Chromosomen 6 und 15) mit der Lese- und
Rechtschreibkompetenz zu identifizieren und diese für bestimmte Hirnentwicklungen verantwortlich zu
machen. Abgesehen davon, dass von dem in dieser Wissenschaftsrichtung gewünschten Auffinden eines
„Rechtschreib-Gens“ den Betroffenen nicht geholfen wäre, sind die entsprechenden
Untersuchungen äußerst umstritten in der Frage der Lokalisierung und Funktion bestimmter
Hirnareale für das Schreiben und Lesen und darin, welche Schlüsse aus den medizinisch inzwischen möglichen
bildgebenden Verfahren der Hirnaktivität zu ziehen sind. Weder die Erblichkeit der Legasthenie noch die
Verantwortlichkeit bestimmter (z.B. linkshemisphärischer oder des sog. Gyrus angularis) Hirnareale für
das Schreiben und Lesen konnten bisher schlüssig nachgewiesen werden. Über die Ursachen einer
Lese-Rechtschreibstörung im Sinne dessen, wie man den Betroffenen helfen kann, ist mit all diesen
Vermutungen wenig gesagt, und die Diskussion ist hier auch weiterhin offen.
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Erfolg versprechender für die Hilfe bei Lese-Rechtschreibstörungen scheinen hier die Ansätze
zu sein, die in den frühkindlichen Entwicklungen Probleme nachweisen, die zu den aufgetauchten
Lese-Rechtschreibproblemen einen Zusammenhang haben könnten. Man spricht hier von Dispositionen der
lese-rechtschreibschwachen Kinder. Ob diese Dispositionen selbst eine solche Störung bewirken, ist
empirisch zwar auch nicht gesichert. Es lassen sich jedoch durch alle Untersuchungen hindurch folgende
empirisch messbare vorschulische Entwick¬lungsstörungen feststellen, die oft auch noch im
Schulverlauf erkennbar bleiben:
Nach Warnke haben oder hatten bis zu 70% aller Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung mehr oder
minder ausgeprägte Sprachentwicklungsstörungen. Das müssen nicht unbedingt nur Störungen
der Artikulation sein, es können auch Schwierigkeiten der so genannten perzeptiven oder rezeptiven
Sprachverwendung sein, also Phänomene, die lange Zeit unentdeckt bleiben können, z. B. Schwächen
bei der Satzbildung, der grammatischen Verwendung der Formen, des Verstehens und Erlernens grammatisch ungewöhnlicher
Konstruktionen usw. Ebenfalls empirisch recht genau umrissen ist die Anzahl der Kinder, die vorschulisch so
genannte visuo-motorische Entwicklungsstörungen zeigen, nämlich 5 – 10% der Kinder mit
Lese-Rechtschreib¬störungen. Unter visuo-motorischen Problemen sind, vereinfacht gesagt,
Verhaltensweisen zu verstehen, bei denen erkennbar ist, dass das Kind altersuntypische Schwierigkeiten hat,
sich im Raum korrekt zu bestimmen oder zu bewegen, seine eigene Größe und Entfernungen zu
bemessen oder Orts- und Richtungsangaben richtig zu verstehen oder zu verwenden. Die Anzahl der Jungen mit
einer Lese-Rechtschreibstörung ist deutlich höher als die der Mädchen (fast doppelt so
viele). Keine spezifische Häufigkeit konnte bezüglich des sozialen Standes des Elternhauses
festgestellt werden.
Nachdem in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder versucht wurde, bestimmte
Fehlertypen bei den betroffenen Kindern aufzufinden, weiß man heute, dass die Kinder mit einer
Lese-Rechtschreibstörung nur Fehler machen, die alle anderen Kinder auch machen, die Legastheniker
machen einfach nur mehr Fehler und sie machen länger auch noch Fehler, die bei den meisten Kindern nach
der 2. Klasse kaum noch vorkommen. „Legasthenietypische Fehler“ gibt es jedenfalls eindeutig
nicht.
In den letzten Jahren hat sich nun die Legasthenieforschung stärker darauf konzentriert herauszufinden,
welche spezifischen Voraussetzungen bei den Kindern entwickelt sein müssen, damit sie eine normale
Schriftkompetenz mit schulischen Mitteln erwerben. Diese Untersuchungen haben herausgefunden, dass zumindest
für die Rechtschreibfertigkeit die sog. fonologischen Bewusstheit die zentrale Voraussetzung ist, die
bei den Kindern mit erheblichen Rechtschreibproblemen in jeweils unterschiedlicher Ausformung nicht so
entwickelt ist wie bei ihren Klassenkameraden. Die Wirksamkeit solcher fonologischer Entwicklungsstörungen
für den Erwerb der Rechtschreibkompetenz ist inzwischen als gesichert anzunehmen. Dies ermöglicht
nicht nur eine relativ frühe und sichere Prognose, dass es bei einem Kind zu ernsthaften
Schreiblernproblemen kommen wird, sondern auch eine wirksame frühzeitige Förderung.
Zu diesen oft vorausgehenden und manchmal auch noch begleitenden Entwicklungsproblemen muss jedoch ausdrücklich
gesagt werden, dass sie alle nicht zu einer Lese-Rechtschreibstörung führen müssen. Für
keine dieser beobachtbaren häufigen Voraussetzungen oder Begleiterscheinungen einer Lese-Rechtschreibstörung
konnte bewiesen werden, dass ein davon betroffenes Kind sich dann auch mit dem Schreiben- und Lesenlernen
schwer tun muss. Wie überhaupt festzustellen ist, dass Lese-Rechtschreibstörungen keinen
einheitlichen Verlauf haben, aus dem sich auch quasi automatisch und für alle Betroffenen gleich die Förderung
ergibt. Jeder Legastheniker hat seine spezifischen Probleme mit der Laut-Zeichenverknüpfung. Desto
wichtiger ist es für eine gezielte Hilfe möglichst früh und möglichst genau die
jeweiligen Probleme eines Kindes mit der Rechtschreibung zu diagnostizieren.
An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass mit der oben gemachten Begriffsbestimmung einer
Lese-Rechtschreibstörung auch Vorstellungen zurückgewiesen sind, die etwa lauten, ein
Legastheniker müsse in Mathematik doch besonders gut sein. Sicher sind für den Lehrer extreme
Diskrepanzen zwischen den zwei Hauptfächern besonders auffällig, und an solchen Kindern sticht der
Bedarf nach einer pädagogischen Sonderintervention besonders krass ins Auge. Aber das Kind mit den
schlechteren mathematischen Leistungen muss überhaupt nicht schwächere intellektuelle Kapazitäten
aufweisen und hat wegen seiner Lese-Rechtschreibstörung die Zusatzhilfen nicht weniger nötig.
Alle modernen wissenschaftlichen Untersuchungen legen im Übrigen Wert auf die Feststellung, dass nicht
entdeckte und nicht behandelte Lese-Rechtschreibstörungen sehr häufig zu psycho¬pathologischen
und psychosozialen Fehlentwicklungen führen. Das Risiko von Fehlleitungen in der
Schullaufbahnentwicklung, Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und Auffälligkeiten des
sozialen Verhaltens ist für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen deutlich höher als bei den
jeweiligen Vergleichsgruppen ohne diese Störung. Hilfe ist für solche Kinder also dringend
geboten, und sie sollte so früh wie irgend möglich einsetzen.
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Es sind eigentlich fast immer die Mütter, die als Erste die Warnsignale bemerken. Sie kennen ihr Kind,
wissen oft, wie es sich fühlt, ohne dass ein Wort gesagt werden muss, sind erste und wichtigste
Anlaufstelle für die Probleme ihres Kindes. Sie merken als Erste, wenn das Kind enttäuscht aus der
Schule heimkommt, womit ihr Kind Schwierigkeiten hat und wobei es sich leicht tut, sie wissen, was ihm Spaß
macht und worunter es besonders leidet. Und sie möchten ihrem Kind helfen die Schwierigkeiten zu
meistern, mit denen es alleine nicht fertig wird.
Mütter lese-rechtschreibschwacher Kinder fühlen sich hier oft überfordert. Sie stellen fest,
dass ihr Kind scheinbar grundlos Kopf- oder Bauchschmerzen hat, für die auch der Kinderarzt keine
medizinische Erklärung weiß. Sie bemerken, dass das Kind plötzlich wieder ins Bett macht
oder beginnt, an den Nägeln zu kauen. Völlig unerklärliche Wutausbrüche tauchen auf,
oder das Kind wird lustlos und ist auch mit seinen Lieblingsspielen nicht mehr zu locken. Es verliert das
Interesse an seinen vormals besten Freunden und beginnt sich zu isolieren. Oder die Mütter bemerken,
dass ihr Kind plötzlich nicht mehr aus der Schule erzählen mag oder seine Schulhefte nicht mehr
freiwillig vorzeigen will. Oft stellen sie auch fest, dass es nicht mehr recht in die Schule gehen will und
regelrechte Schulangst äußert. Nur zu oft ist nicht auf den ersten Blick kenntlich, dass dies
Reaktionsformen einer bisher nicht erkannten Lese-Rechtschreibstörung sein können. Wohlgemerkt,
sie können darauf hinweisen; solche Symptome können auch ein Hinweis auf ganz andere
Schwierigkeiten sein, ernst genommen werden müssen solche Beobachtungen immer, vor allem wenn sie gehäuft
auftreten.
Die Schwierigkeiten eines lese-rechtschreibschwachen Kindes und seiner Eltern gipfeln in der täglichen
Hausaufgabenpraxis. Hier zeigt sich besonders deutlich, was das Kind in der Schule nicht verstanden hat. Da
hat es eine scheinbar leichte Schreibaufgabe und kommt beim besten Willen nicht damit zurecht. Da steht eine
Leseaufgabe auf dem Plan und das Kind ‚liest‘ dieselbe Stelle immer wieder falsch oder kann die
einzelnen Buch¬staben einfach nicht zu dem richtigen Wort verbinden. Eltern neigen dann oft dazu - fast
immer aus dem wirklich gut gemeinten Gedanken heraus, ihrem Kind bei der Schwierigkeit helfen zu wollen -
die Aufgabe so oft zu wiederholen, bis das Kind sie end¬lich kann. Und das dauert manchmal Stunden und
kostet oft Tränen des Kindes und Vorwürfe der Eltern, die sie selbst oft schon bereuen, während
sie gerade noch schimpfen.
Hierzu einige Klarstellungen: Hausaufgaben sind - jedenfalls in der Grundschulzeit - dazu da, in der Schule
Gelerntes zu vertiefen und zu üben, sodass das Kind sicher beherrscht, wozu es die Anleitung in der
Schule bekommen hat. Sie sind im Normalfall nicht dazu da, in der Schule nicht vollzogene Lernschritte zu
ersetzen. Natürlich sollen Eltern ihren Kindern dabei helfen, denn auch dieses begrenzte
Hausaufgabenziel erfordert viel Anstrengung, die so zielgerichtet aufzubringen ein Kind erst erlernen muss.
Gerade bei lese-rechtschreibschwachen Kindern ist aber sehr oft zu beobachten, dass die Hausaufgabe überhaupt
keine Vertiefung von grundsätzlich Begriffenem ist, sondern nur weitgehendes Unvermögen offenbart.
Vermehrtes Üben, wiederholtes Auf- und Abschreiben führt in solchen Fällen aber nicht dazu,
dass das Kind den in der Schule nicht erfassten Lernschritt ‚endlich packt‘, sondern dazu, dass
das lese-rechtschreibschwache Kind beginnt, sich nachhaltig zu sträuben, bockig wird und schließlich
Lernblockaden aufbaut, die zu ernstlichen Störungen des emotionalen Verhältnisses von Eltern und
Kind führen können. Oder es bemüht sich immer wieder erfolglos und kommt so mehr und mehr zu
der Selbsteinschätzung, dass es das sowieso nie lernt und folglich dumm sein muss, schließlich
haben das doch alle anderen Kinder und womög¬lich auch noch die eigenen (jüngeren) Geschwister
schon längst begriffen.
Zurück zum Anfang
Hausaufgaben sind zweitens Aufgaben für das Kind und nicht Lehraufträge für die Eltern. Wenn
ein Kind zum wiederholten Male bei der Aufgabe ‚patzt‘, dann hat eben nicht die Mutter versagt.
Die Mutter eines lese-rechtschreibschwachen Kindes hat sich nichts vorzuwerfen, wenn ihr Kind auch das
‚leichteste Wort‘ nicht richtig zu schreiben vermag, wenn es im Heft aussieht wie ‚Kraut
und Rüben‘ noch dazu mit einer ‚völlig unleserlichen Klaue‘. Hiermit soll natürlich
nicht gesagt sein, dass es auf Schriftgestal¬tung und Heftführung nicht ankäme. Ein
lese-rechtschreibschwaches Kind hat aber in aller Regel so grundsätzliche Probleme mit dem Verhältnis
von Laut und Zeichen, dass seine Schwächen normalerweise nicht auf mangelhafte Aufsicht und Konsequenz
bei den Hausaufgaben verweisen. Wenn ein lese-rechtschreibschwaches Kind bei den Schul¬aufgaben versagt,
ist weder es selbst noch der beteiligte Elternteil schuld daran. Warum sollten auch ausgerechnet die in der
Regel nicht einschlägig geschulten Eltern für das haften, was die pädagogisch versierten und
dazu berufenen Lehrer bisher nicht erreicht haben? Eltern sollten in solchen Fällen die Lehrer auf die
speziellen Schwierigkeiten aufmerksam machen und so dafür sorgen, dass die Lehrer frühzeitig
Hilfen anbieten können, deren Notwendigkeit ihnen bisher nicht aufgefallen ist, weil das Kind seine
Schwächen zum Beispiel durch gutes Auswendiglernen kaschieren konnte.
Hausaufgaben haben drittens einen zeitlichen Rahmen. Sie dauern nicht so lange, bis alles geschafft ist,
sondern haben ihr Maß darin, dass ein Kind für seine schulischen Lernschritte noch üben
soll, dabei aber seine Spiel-, Erholungs- und motorischen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen dürfen.
In aller Regel ist hier in den ersten beiden Schuljahren eine tägliche Hausaufgabendauer von maximal
einer Stunde anzusetzen. Gerade lese-rechtschreib¬schwache Kinder brauchen alternative Sphären, in
denen sie Erfolgserlebnisse erzielen können. Wie oft haben wir Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen
erlebt, deren psychoreaktive Symptomatik nur deshalb nicht entwicklungsbestimmend geworden ist, weil sie
Bereiche hatten, in denen sie zu den Besten gehörten. Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder sollten
also durchaus selbstständig einen Schlussstrich unter die Hausaufgaben ziehen und zur Information für
den Lehrer eine Bemerkung über Dauer und Art der häuslichen Arbeit unter das Geleistete
machen.
Außer dem unmittelbaren Schreiben- und Lesen-Üben haben die Kinder auch andere Hausaufgaben, in
denen das Schreiben oder Lesen zwar eine Rolle spielt, aber nicht das eigentliche Lernziel, sondern nur das
Kommunikationsmittel ist. Hier ist für lese-recht¬schreibschwache Kinder besondere Hilfe vonnöten,
denn hier sollen und können sie sich bewähren. Eltern lese-rechtschreib¬schwacher Kinder
sollten sich nicht scheuen, hier Erleichterungen zu schaffen. Das kann damit anfangen, dass die Mutter dem
Kind den Text aus dem Schulbuch vorliest und ihm so ermöglicht, die Sach- oder Mathematikaufgabe zu lösen,
statt wieder nur vorgeführt zu bekommen, dass es nicht lesen kann. Die Hilfe kann auch bedeutend weiter
gehen. Eltern können lese-rechtschreib¬schwachen Kindern auch Schreibarbeit abnehmen,
beispielsweise, indem sie den Lösungssatz ins Heft schreiben oder gar sich den ganzen Aufsatz diktieren
lassen. Sie sollten dann dem Lehrer eine entsprechende Mitteilung machen, sodass er das Resultat
entsprechend wür¬digen kann. Es ist unglaublich wichtig, dass lese-rechtschreib¬schwache Kinder
spüren, dass die Schule eben nicht nur aus Schreiben und Lesen besteht. Sie müssen merken, dass
sie durchaus gefordert sind und mithalten können in Mensch-Natur-Kultur, bei der Mathematik und auch im
Deutschunterricht, denn auch in ihm geht es nicht nur ums Schreiben und Lesen.
Ein weiterer kritischer Punkt für lese-rechtschreibschwache Kinder ist das benotete Dik¬tat mit der
Notierung der Fehleranzahl. Natürlich sind Eltern entsetzt, wenn sie das Ergebnis ihres Kindes sehen.
Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder sollten aber bedenken, dass ihr Kind sich wirklich angestrengt und
sein Bestes gegeben hat, und es nicht noch über die als Strafe empfundene Note hinaus mit Vorwürfen
belegen. Eine Mutter sollte sich zum Beispiel einmal die Wörter anschauen, die das Kind richtig
geschrieben hat und es für die gute Leistung loben, die es gebracht hat und die schulischerseits völlig
unzureichend mit einem ‚mangelhaft‘ oder ‚ungenügend‘ bewertet wur¬de. Und
wenn schon wieder nur die Anzahl der falsch geschriebenen Wörter vom Lehrer angegeben wurde, sollten
die Eltern einmal die richtig geschriebenen Wörter zählen und als Bemerkung unter das Diktat
schreiben: „Ich habe 50 richtige Wörter gezählt und halte das für eine sehr gute
Leistung!“
Diese Ratschläge werden sicherlich für viele Eltern nicht ausreichen. Das liegt daran, dass für
eine Lese-Rechtschreibstörung die verschiedensten Faktoren eine Rolle spielen. Jedes lese-recht¬schreib¬schwache
Kind hat in der Ausprägung seiner Störung unterschiedliche Stärken und Schwächen, die es
für eine wirksame Hilfe zu ermitteln gilt. Das Wichtigste ist zugleich das Schwierigste: die genaue
Diagnose. Eltern sollten hier den Rat von entsprechend ausgebildeten Fachleuten einholen. Ansprechpartner
sind der Klassenlehrer, der Beratungslehrer, ein Sprachheillehrer, Bildungsberatungsstellen und die für
die Hilfe lese-rechtschreib¬schwacher Kinder spezialisierten freien Praxen und Institute.
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Auch Lehrer fühlen sich oft überfordert im Umgang mit Lese-Rechtschreibstörungen. Leider gehört
bis heute grundlegendes Wissen in Fragen der Diagnostik und des unterrichtsspezifischen oder gar
therapeutischen Umgangs mit solchen Schwierigkeiten nicht zum gesicherten Ausbildungskanon eines
Grundschullehrers, geschweige denn eines Fachlehrers in den weiterführenden Schulen. Dieser Ratgeber
kann natürlich nicht die zweifellos vorhandenen Defizite in der Lehrerausbildung kompensieren. Es soll
aber versucht werden, Lehrern die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sie haben, um möglichst frühzeitig
auf entsprechende Schwierigkeiten aufmerksam zu werden, und es soll der pädagogisch/rechtliche Rahmen
erörtert werden, der für lese-rechtschreibschwache Schüler zur Verfügung steht.
Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen können manchmal sehr gut abschreiben und verfügen oft
über erstaunliche Fähigkeiten, Texte bis ins kleinste Schreibdetail auswen¬dig zu lernen.
Diese Kinder fallen in den ersten beiden Schuljahren oft nicht auf. Des¬halb ist es wichtig, dass früh
ungeübte Texte mit dem bis dahin gelernten Wortmaterial, aber auch mit noch nicht im Unterricht
behandeltem, klassenstufenspezifischem Wortmaterial als Diktate geschrieben werden. Damit soll nicht gesagt
werden, dass die Tech¬nik, Diktattexte üben zu lassen, pädagogisch schlecht wäre. Die
meisten Kinder lernen so sehr gut das Schreiben, und die Erfolgserlebnisse, die Kinder verspüren, wenn
sie bei geübten Diktaten fast alles richtig machen, sind ein wichtiger Ansporn für den kindli¬chen
Lernvorgang. Aber um selber sicherzugehen, wie die Qualität der Lernschritte der Kinder aussieht,
sollte sich der Lehrer Material verschaffen, in dem der wirkliche Schreibvorgang zum Ausdruck kommen muss.
Es ist selbstverständlich, zumal in den ersten beiden Jahrgangsstufen, dass der Lehrer solche
Schriftproben nicht zur Beurtei¬lung der Kinder heranzieht oder sie ihnen gar mit viel Rot versehen zur
Verbesserung aufgibt. Sie sollten unauffällig durchgeführt werden und sind nur dazu geeignet, dem
Lehrer die Kinder zu zeigen, bei denen sein Bemühen noch nicht gefruchtet hat. Hier ist sehr wichtig,
dass der Lehrer Fehlerprofile von den Schreibleistungen erstellt, um rechtzeitig auch auf allgemeine
Schwierigkeiten aufmerksam zu werden und so gegebenenfalls neue Schwerpunkte zu setzen.
Eine große Hilfe für den Lehrer stellt hier das im Rahmen der IGLU-Studie entwickelte
Testinstrumentarium dar, das unter der Bezeichnung „Löffler-Dignostik“ jetzt auch in den
Schulen eingesetzt werden kann (vgl. Hinweise im Anhang dieses Heftes). In der Internationalen Grundschul
– Lese – Untersuchung wurde erstmals für Deutschland 2001 und erneut 2006 die
Rechtschreibkompetenz unser Kinder mit einer statistisch repräsentativen Gruppe geprüft. Das
besondere an dieser Untersuchung besteht darin, dass nicht nur – wie sonst üblich – die
falschen oder richtigen Wörter gezählt wurden, sondern eine linguistisch fundierte Fehleranalyse für
jeden vorgekommenen Fehler durchgeführt und mit einem entwicklungsdidaktischen Modell qualifiziert
wurde. Dadurch kann festgestellt werden, ob die individuellen Fehler, die ein Kind beim Schreiben macht,
altersgerecht sind oder ob und in welchen Bereichen spezielle Förderung erforderlich ist.
Sinngemäß das Gleiche gilt für die Sicherstellung der Erreichung der Leselernziele, nur dass
hier der Überprüfungsprozess noch sehr viel einfühlsamer vor sich gehen muss, denn ein im
Klassenverband ‚vorgeführtes‘ Kind mit einer Lesestörung erhält so leicht sein
erstes Stigma. Lehrer sollten beim Vorlesen der Kinder darauf achten, ob die Augenbe¬wegung dem
vorgetragenen Textfortschritt entspricht. Oft haben leseschwache Kinder ausgesprochene Stärken beim
Auswendiglernen und was sich wie flüssiges Lesen anhört, ist in Wahrheit der guten Merkfähigkeit
des Kindes geschuldet.
Kinder, von denen der Lehrer weiß, dass sie sich sehr viel schwerer beim Lesen oder Schreiben tun als
andere Kinder oder als seine Erfahrung ihm als normal erscheinen lässt, sollten möglichst schnell
spezielle Förderung erhalten. Ob diese mit speziellen binnen-differenzierenden Maßnahmen im
Unterricht selbst oder besser im Förderunter¬richt erfolgen kann, oder ob außerschulische
qualifizierte Nachhilfe oder gar eine thera¬peutische Hilfe nötig ist, muss von Fall zu Fall
entschieden werden. Auf jeden Fall sollte der Lehrer sich nicht scheuen, den zusätzlichen Bedarf für
individuelle oder Gruppenförderung bei seinem Rektor anzumelden. Die Lehrer haben hier eine Unterstützung
in der neuen seit August 2008 geltenden Verwaltungsvorschrift:
Die Verwaltungsvorschrift, nach der Hilfe möglich ist, ist keine spezielle Vorschrift für Kinder
mit Lese-Rechtschreibproblemen, sondern ordnet die Schwierigkeiten mit der Schrift in die verschiedenen Förderverpflichtungen
ein, die den Schulen obliegen. Sie stellt die „individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der
Kinder“ in den Vordergrund und erklärt es zur Aufgabe der Schule, diese rechtzeitig zu erkennen
und ihnen gerecht zu werden. Dafür werden u.a. „kontinuierliche Lernstandsdiagnosen“ und
„verbindliche Diagnose- und Vergleichsarbeiten“ gefordert, es bleibt aber leider unklar,
inwiefern das über die üblichen Klassenarbeiten hinaus gehen muss und wie die Schulen ihrer
Aufgabe erfüllen müssen. Die in der Verwaltungsvorschrift dann weiter genannten schulischen Fördermöglichkeiten
haben zwar rein theoretisch ein recht hohes Niveau, indem sehr viele Fördermöglichkeiten eröffnet
und moderne wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden, de facto scheitert ihre Umsetzung
aber immer wieder an den schulischen Realitäten. Es wird die Notwendigkeit von sehr viel schulischem
Einsatz propagiert ohne gleichzeitig auch die sachlichen, personellen und finanziellen Ressourcen in
ausreichendem Ausmaß zur Verfügung zu stellen.
Dennoch stellt die Verwaltungsvorschrift für die betroffenen Kinder einen großen Schritt nach
vorne dar. Sie ermöglicht den Lehrern, die die Schwierigkeiten ihrer Schüler erkennen und ihnen
helfen wollen, große Spielräume und sie benennt die Auswirkungen der
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten recht genau, sodass Förderung und Rücksichtnahme – wenn sie
denn einmal beschlossene Sache sind – auch in allen Fächern praktiziert werden müssen.
Besonders hervorzuheben ist hier, dass die Verwaltungsvorschrift die Kooperation auch mit außerschulischen
Fachleuten fördert und die praktisch wirksamen Grenzen des schulischen Alltags nicht unter den Tisch
kehrt.
Man kann über den grundsätzlichen Ansatz der Verwaltungsvorschrift, die Lese-Rechtschreibstörung
gewissermaßen als Unterabteilung der Behinderungen zu behandeln, mit Bedenken wegen der
Stigmatisierungsgefahr geteilter Meinung sein. Richtig und für die Betroffenen von Vorteil ist
jedenfalls, dass damit die Anerkennung der objektiven Schwierigkeiten, die die Kinder haben, auf höchstes
grundgesetzliches Niveau erhoben ist. Die Verwaltungsvorschrift argumentiert ausdrücklich mit dem nach
GG Art.3 Abs. 1 garantierten Gleichheitsgrundsatz, um hervorzuheben, „dass bei Lebenssachverhalten,
die von ihrem Wesen her ungleich sind, von Rechts wegen zu differenzieren ist“. Mit anderen Worten: im
Sinne der Gleichbehandlung müssen objektive Nachteile ausgeglichen werden. Wie das geschehen kann, wird
sicherlich immer wieder Gegenstand des Streits sein, die Verwaltungsvorschrift macht dazu folgende Vorgabe:
Es soll der Nachteil der mangelhaften Schriftkompetenz ausgeglichen werden, ohne dabei die schulischen
Anforderungen zu verändern. Das ist immer wieder eine auch individuelle jeweils neu zu begründende
Entscheidung, aber die Verwaltungsvorschrift beschreibt gut die Bereiche, in denen das möglich
ist.
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Nachteilsausgleich
Der von der Verwaltungsvorschrift eingeräumte Nachteilsaugleich beschränkt sich nicht auf den Unterricht, sondern bezieht ausdrücklich auch die Leistungsüberprüfungen, die Klassenarbeiten und deren Abbildungen im Zeugnis oder in den Empfehlungen für die weiterführende Schulen mit ein. Er gilt im Übrigen auch nicht nur für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, sondern beispielsweise auch für die Kinder mit Rechenschwäche (Dyskalkulie). Die Einräumung von Maßnahmen des Nachteilsausgleichs hat auch keine Beschränkung auf Klassenstufen oder Schultypen, kann also auch bis zum Abitur und im berufsschulischen Unterricht und den dazu gehörigen Prüfungen noch eingesetzt werden. Werden Maßnahmen des Nachteilsausgleichs eingeräumt, so werden diese nicht im Zeugnis vermerkt. Der Nachteilsausgleich hat im Wesentlichen drei Bereiche:
- Es kann die Arbeitszeit den individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Die Verlängerung
der Bearbeitungszeit kann im Unterricht erforderlich sein und sollte den Kindern mit Lese- oder
Rechtschreibschwierigkeiten in allen Fällen, wo geschrieben oder auch gelesen werden muss auch
eingeräumt werden, die Verlängerung der Arbeitszeit kann aber auch in allen Prüfungssituationen
gewährt werden. Dieser Nachteils¬ausgleich kann bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen
die tatsächlich vorhandenen Benachteiligungen natürlich nicht ausgleichen, versetzt sie aber
in die Lage, zumindest ihre Bemühungen um die jeweilige Problemlösung (Aufsatz,
Wissensabfrage, Mathematikaufgabe etc.) zu demonstrieren.
- Es können technische und „didaktisch-methodische“ Hilfsmittel für
die Erarbeitung
des Unterrichtsstoffes und seiner Präsentation zugelassen werden. Die sog. didaktisch-metho¬dischen
Hilfsmittel beziehen sich stärker auf den Unterricht, die technischen Hilfsmittel
können für
die Kinder mit Lese-Recht¬schreibstörungen aber auch prüfungsbezogen von entscheidender
Bedeutung sein. Oft können diese Kinder ihre Verschriftung besser auf einem Computer realisieren,
oft können sie schriftlich gestellte Aufgaben erst dann erfüllen oder lösen, wenn sie sie
gehört haben. Die Verwaltungsvorschrift räumt ein, dass schriftgebundenen Aufgaben auch mit
technischen Hilfsmitteln bearbeitet werden können. Hier kommen in erster Linie zwei Hilfsmittel in
Frage: der Computer als Schreibhilfe und der Computer als Vorleseprogramm.
- Die Leistungen, die ein Kind schulisch erbringt, werden hinsichtlich der Beurteilung üblicherweise sowohl schriftlich als auch mündlich verlangt. Dabei haben sich bestimmte Bewertungskriterien herausgebildet oder sind sogar zur Vorschrift geworden. Die Verwaltungsvorschrift räumt hier ein, dass bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörung diese Gewichtung zugunsten der mündlichen oder praktischen Leistung verschoben werden kann. In diesem Bereich ist natürlich die Abgrenzung zwischen Nachteilsausgleich und veränderten Anforderungen besonders schwierig. Die Überlegung, welche Leistung eigentlich wirklich gefordert wird, kann aber helfen: Ein gelungenes Referat z. B. (und als didaktisch-methodisches Hilfsmittel darf hier gelten, dass nur dieser Schüler zu einer solchen „Ersatzleistung“ ermuntert wurde) wiegt doch einen wegen der Verschriftungsprobleme spracharmen Aufsatz immer auf.
Dazu, welches Kind den Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen darf, macht die Verwaltungsvorschrift keine präzisen
Angaben. Für die Grundschulzeit kann man wohl davon ausgehen, dass die „verbindliche
Diagnosearbeit“ das entscheidende Datum liefert, es hängt aber wohl viel am Urteilsvermögen
des jeweiligen Lehrers. In Zweifelsfällen sollten hier Beratungslehrer oder auch außerschulische
Experten, die die Verwaltungsvorschrift ausdrücklich mehrfach erwähnt, hinzugezogen werden.
Die Verwaltungsvorschrift weiß um die Wirkung, die Lese-Rechtschreibschwächen in anderen Fächern
als „Deutsch“ haben. Es wird deshalb mehrfach die Gültigkeit der Vorschrift auch für
die anderen Fächer, besonders im Fach Englisch betont.
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Notenschutz
Die Verwaltungsvorschrift erwähnt zwar den Begriff des Notenschutzes nicht explizit
(darunter wird im
Bereich Legasthenie verstanden, dass den betroffenen Kindern besondere Vorteile eingeräumt werden,
damit sie ihre Stärken zum Ausdruck bringen können), sie räumt aber unter bestimmten
Voraussetzungen auch solche Möglichkeiten ein. Diese sind aber ab der Klasse 5 bis zum
Halbjahreszeugnis der 6. Klasse daran gebunden, dass die Lese- und/oder Rechtschreibleistung „dauerhaft,
d. h. in der Regel etwa ein halbes Jahr, geringer als mit der Note ausreichend bewertet wurden.“
Jedenfalls steckt in dieser Zeitangabe ein großes Problem, denn in der Regel haben die Kinder in der
5. Klasse zunächst einmal einen Lehrerwechsel, der im Guten wie im Schlechten einen Neuanfang bedeutet.
Ob diese Dauer auch für Grundschulkinder gilt, lässt die Verwaltungsvorschrift offen, sie muss
aber als äußerstes Zeitintervall verstanden werden, weil der Vorschrift sehr daran liegt, die
Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen.
Über die Klasse 6 hinaus sind die Möglichkeiten des Notenschutzes nach der Verwaltungsvorschrift
durchaus auch möglich, die Verwaltungsvorschrift bekennt aber offen, dass die Voraussetzungen dafür
mit schulischen Mitteln nicht zu klären sind. Sie räumt die Veränderungen des schulischen
Anforderungsprofils dann ein, „wenn davon auszugehen ist, dass die Lese- oder Rechtschreibschwäche
nicht auf eine mangelnde Begabung oder auf mangelnde Übung zurückzuführen ist, sondern ein
komplexes Feld an Ursachen für einen gestörten oder verzögerten Schriftspracherwerb vorliegt
oder die Lese- oder Rechtschreibschwäche eine auf medizinischen Gründen beruhende Teilleistungsstörung
ist.“ Die Möglichkeiten des Notenschutzes haben ihr Ende jeweils in den Abschlussprüfungen,
mit denen eine Schule (außer der Grundschule) verlassen werden kann, und dies wird damit begründet,
dass Zeugnisse allgemeingültige Eintrittskarten für weiterbildende oder berufliche Karrieren
seien. In den gymnasialen Oberstufen sind Maßnahme des Notenschutzes ebenfalls ausgeschlossen. Die
Verwaltungsvorschrift erwähnt aber mehrfach ausdrücklich, dass der
Nachteilsausgleich immer und für
jeden Betroffenen eingeräumt werden kann und – man muss aus entwicklungspsychologischer Sicht
auch sagen – für Legastheniker auch eingeräumt werden muss.
Der Notenschutz sieht im Einzelnen vor:
- Die Lese- und/oder Rechtschreibleistungen werden bei der Notenbildung nur zurückhaltend gewertet.
Wieweit die Zurückhaltung im Einzelnen geht, wird hier nicht geklärt, es ist aber vorstellbar,
dass diese Leistungen fachbezogen gar nicht in die Gesamtbewertung eingehen.
- Es können für Kinder mit erheblichen Lese- und/oder Rechtschreibproblemen andere Aufgaben als
die schriftlichen Leistungen gestellt werden. Darunter kann verstanden werden, dass ein Kind ein Diktat
gar nicht oder nur zum Teil (für die zweite Hälfte kann z. B. der Text zur Abschrift, die
nicht bewertet wird, daliegen) mitschreibt. Auch Lückendiktate, in denen das Kind nur die für
es „einfachen“
Wörter einträgt sind so möglich. In den weiterführenden Schulen sind Referate oder
andere Aufgaben statt der schriftlichen Aufgabe denkbar.
- Sofern rechtschreiberischen Leistungen unvermeidlich erscheinen oder vom Kind erbracht werden sollen
(viele recht¬schreibschwachen Kinder wollen an allen Leistungsprüfungen teilnehmen, um nicht
aufzufallen) kann die Bewertung der Leistung statt durch eine Note auch durch eine
aufmunternde ersetzt werden. Diese rücksichtsvolle Maßnahme kann dann auch für die
Zeugnisnote gelten.
- Sofern einmal festgestellt wurde, dass der „Notenschutz“ für ein Kind gelten soll, ist dieser Beschluss der Klassenkonferenz auch für alle Fachlehrer verbindlich. Dies gilt explizit auch für die Fremdsprachen Englisch.
Wirksame Hilfe beginnt mit einer fundierten Diagnostik
Stellt sich heraus, dass die Lese-Rechtschreibschwierigkeiten des Kindes so gravierend sind, dass alles häusliche
Bemühen und auch die schulischen Hilfen nichts fruchten, so kann das die verschiedensten Gründe
haben. Jede Lese-Rechtschreibstö¬rung hat ihre spezielle Vorgeschichte, Ausprägung und ihren
spezifischen Verlauf, jeder Legastheniker hat mit dem tatsächlich sehr komplizierten System der
Rechtschreibung andere Probleme. Das A und 0 einer wirksamen Hilfe besteht deshalb in einer
gründlichen Diagnose der Schwierigkeiten eines Kindes.
Zunächst gilt es, die Vorgeschichte zu eruieren. Dazu gehören der Ausschluss der oben erwähnten
medizinisch diagnostizierbaren Störungen, die in speziellen Lernstörungen ihre Auswirkung haben können.
Zu einer fundierten Diagnostik gehört aber auch der Nachvollzug der individuellen Fortschritte im
Verlauf der Sprachentwicklung und die Abklärung der vorschulischen Entwicklungsschritte und
Entwicklungsbedingun¬gen, weil sie erheblichen Einfluss auf die Ausprägung der feststellbaren
Schwierigkeiten haben.
Darüber hinaus muss der Stand der das Schreiben- und Lesenlernen bestimmenden Basisvoraussetzungen
ermittelt werden. Dazu gehören sowohl die Feststellung des Entwicklungsstandes der visuellen,
akustischen und motorischen Wahrnehmungsverarbeitung als auch die Ermittlung der individuellen Ausprägung
der Fonembewusstheit und die Abklärung der speziellen Merkfähigkeitssteuerung und -kapazität,
die das Kind mobilisieren kann. Die entscheidenden Hinweise für die gezielte Förderung kommen aber
letztlich aus der linguistischen Analyse der orthografischen Schwächen im Aufsatz, im Diktat und im
Rechtschreibtest.
Der dritte diagnostische Schwerpunkt muss deshalb in der qualitativen Analyse der Schriftkompetenz liegen.
Diese qualifizierte Lese- und Rechtschreibfehleranalysesollte sich auf freies Schriftmaterial ebenso stützen
wie auf schulische Arbeiten und genormte Lese- und Rechtschreibtests. Förderdiagnostisch relevante Schlüsse
lassen sich daraus vor allen Dingen dann ableiten, wenn linguistisch orientierte Fehlerprofile erstellt
werden und die individuelle Schreib- und Lesestrategiebildung untersucht wird.
Der vierte diagnostische Schwerpunkt sollte in der Ermittlung des Verlaufs der psychoreaktiven
Symptomatikder zu bestimmenden Lese-Rechtschreibstörung bestehen. Die psychischen Bewältigungsformen
schulischer und häuslicher Belastungen geben wichtige Aufschlüsse für die Formen und den
Aufbau der zu entwickelnden Hilfsstrategien.
Aus der Gesamtheit der genannten diagnostischen Maßnahmen sind dann Umfang und Ausformung der
einzuleitenden Hilfen zu bestimmen. Alle Teile sind dabei gleich wich¬tig und ergeben erst zusammen die
Möglichkeit, nicht bloß festzustellen, was das Kind nicht kann, sondern seine Stärken zum
Ausgangspunkt und entscheidenden Hebel der Hilfen werden zu lassen. Die Wirksamkeit der Hilfe hängt
dann daran, Fördermaßnahmen zu ergreifen, die in regelmäßiger Abstimmung der
beteiligten Personen durchgeführt werden. Sie sollten auch - unabhängig davon, ob die Förderungen
schwerpunktmäßig im schulischen, häuslichen und/oder therapeutischen Rahmen verlaufen können
durch eine fundierte Förderdiagnostik begleitet werden.
Anschrift der Verfasser:
Caspar und Hildegard Bonhoff leiten seit 1984 das
Institut für Legastheniker-Therapie
Katharinenstraße 21
72764 Reutlingen
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